Der jiddische Erzähler Chaim Grade wurde 1910 in Wilna geboren. Er studierte in einer strengen Jeschiwa, die er verließ, um Dichter zu werden. Den Holocaust überlebte er in der Sowjetunion. Als er im Herbst 1945 nach Wilna zurückkehrte, erschütterte ihn die Radikalität der Zerstörung. Seine Lebensaufgabe wurde die literarische Rekonstruktion dieser intensiv jüdischen Stadt und ihrer komplizierten Einwohner. Mit großem psychologischem Gespür porträtiert Grade insbesondere die Nöte aber auch die Kühnheit der Frauen, die ihren gelehrten rabbinischen Männern noch einiges beibringen können. Und so geht es denn auch um die Frage, ob Religionsgesetze der Her-zensbildung entgegenstehen.
Dr. Susanne Klingenstein ist Literaturhistorikerin. Auf Deutsch erschienen von ihr Studien zur jiddischen Literatur, darunter Mendele der Buchhändler (Harrassowitz 2014) und Es kann nicht jeder ein Gelehrter sein. Eine Kulturgeschichte der jiddischen Literatur, 1105-1597 (Suhrkamp 2022).