Zum Judentum der eigenen Vorfahren zurückfinden, mit viel Mut für wunderschöne und für tieftraurige Überraschungen: Das ist das große Thema der niederländischen Schriftstellerin Judith Fanto (geboren 1969). Zu Beginn des Romans zählt sich die Autorin, die zugleich auch Ich-Erzählerin ist, zum „13.Stamm, dem Stamm der nicht jüdischen Juden“. Doch das ändert sich, Seite für Seite, Kapitel für Kapitel. Nach vielen Recherchen, langwieriger Dokumentensuche, einer Namensänderung, zahlreichen Fragen, auf die sie Antworten erhält, und ebenso vielen Fragen, auf die Antworten verweigert werden, ist ihr klar: Ich bin Jüdin, und ich will jüdisch leben. Schlüsselgestalt bei der Suche der Autorin nach der eigenen Identität ist Viktor, ihr Großonkel, geboren 1908 in Wien, ein leidenschaftlicher, lebenslustiger Mann. Das Buch ist keine lineare Familienbiographie, sondern springt gut lesbar zwischen verschiedenen Zeitebenen hin und her. Wir lernen Viktors jüdische Familie um 1900 in Wien kennen, ihre Begeisterung für Gustav Mahlers Musik, aber eben auch den ständig anwesenden Antisemitismus, der mit Einzug Hitlers in Wien 1938 sofort brutalste Formen annahm. Wir erfahren von quälenden Entscheidungen, vor die sich die Familie damals gestellt sah: Wenn es angesichts der tödlichen Judenverfolgungen nur drei oder vier Familienmitgliedern gelingen könnte, zu fliehen, welche sollten dann die Flucht versuchen? Und wer müsste verzichten – zugunsten der anderen? Viktor verzichtete – und ermöglichte damit den Großeltern der Autorin die rettende Flucht in Verstecke in Belgien und den Niederlanden. Viktor und viele weitere Verwandte wurden ermordet. Der gerettete Teil der Familie hat nach der Shoah aus Scham über den hohen Preis des eigenen Überlebens jahrzehntelang fast nur geschwiegen. Bis die Autorin als junge Frau in den 1990er-Jahren das drückende Schweigen nicht mehr aushält und anfängt, immer und immer wieder Fragen zu stellen. Noch einmal 30 Jahre später ist es ihr nun gelungen, dieses fesselnde Buch zu schreiben und zu ihrer Identität zurückzufinden.
Renate Schwarzbauer