Dieses Buch blickt in eine Zeit zurück, über deren jüdisches Leben weniger Fakten überliefert sind als über jüdische Erfahrungen im 19. bis 21. Jahrhundert: Die Schriftstellerin Dagmar Nick (geb. 1926) führt uns anhand ihrer Vorfahren ins 16. bis 18. Jahrhundert. Die Regionen und Städte, in deren Archiven Nick akribisch recherchierte, sind uns vertraut: Hannover, Hildesheim, Stadthagen, Wunstorf, Rinteln, Hamburg, Altona. Aber wie sah die jüdische Welt damals aus, Familienleben, Arbeit, Synagoge, Gebet, Gemeinde? Welche Berufe durften Juden ergreifen, welche waren strikt verboten? Warum mussten sie für fast alles – anders als die christliche Bevölkerung – hohe und höchste Gebühren bezahlen? Zum Beispiel fürs Heiraten, für die Erlaubnis, Kinder zu bekommen, für Reisen, für Wohn-, Religions- und Handelsrechte? Warum wurde auf Jüdinnen und Juden ein Leibzoll erhoben, warum benötigten sie Schutzbriefe ihres Landesregenten? Und warum war Ernst-August, Herzog von Hannover, erpicht darauf, dass ihm unbedingt Juden das Geld vorstreckten, mit dem er sich 1692 vom Kaiser in Wien die Kurfürstenwürde erkaufte?
Dagmar Nick stellt in spannenden Berichten ihre weitverzweigte Familie vor und erzählt von den Schikanen und von der bewegenden Stärke jüdischen Lebens im Norddeutschland des Barock und der Aufklärung. Ein Kapitel widmet sie auch dem berühmten Religionsdisput zwischen dem weisen Rabbiner Joseph Samson von Stadthagen und mehreren Christen am Hof des Kurfürsten von Hannover im Sommer 1702. Dieses Gespräch ist Zeugnis seltener Toleranz auf Seiten der Mehrheitsgesellschaft der damaligen Zeit: Der christliche Hochadel hörte tatsächlich einmal einem Juden zu und würdigte seine Argumente und Einsichten. Leffmann Behrens, ein kluger und umsichtiger Vorfahr Dagmar Nicks, hatte wesentlich dazu beigetragen, dass dieser Disput überhaupt stattfinden konnte.
Renate Schwarzbauer
Dagmar Nick, Eingefangene Schatten. Mein jüdisches Familienbuch. C.H.Beck-Verlag, München 2015, 268 Seiten.