Buchempfehlung: Villa Russo- Eine deutsche Geschichte von Julia Nelki Verlag Offizin 2019, 230 Seiten, übersetzt aus dem Englischen von Regine Othmer

Die britische Kinderpsychiaterin Julia Nelki(geb 1953) ist Nachfahrin der beiden jüdischen Familien Russo und Nelki. Sie erzählt einfühlsam die Geschichte dieser Familien. Ihr Vater Wolf Nelki (1911-1992) entkam dem Terror des NS-Regimes mit knapper Not, er floh aus Berlin und fand in Brüssel und London Exil. Nach 1945 ging er daran, so viel wie möglich über den Werdegang der Familien seiner Mutter Ernestine Russo und seinen Vater Hermann Nelki herauszufinden. All diese Fakten und Ereignisse, die Wolf Nelki gesammelt und auf einzelnen Blättern notiert hat, fügt Julia Nelki nun zu einem ergreifenden Bericht zusammen.

Angelpunkt ihres Tatsachenberichts ist die Villa Russo. Moritz Russo, einer der Onkel von Wolf Nelki, hat sie um 1895 in Wernigerode im Harz errichtet. Er war ein erfolgreicher Fabrikant von Harzer Käse, und auch sein Bruder Benno Russo stieg mit seiner Frau Clara in Produktion und Vertrieb ein. Alles schien ein Beispiel gelungener Akzeptanz von jüdischem Können und jüdischem Familienleben in einer alten, christlich geprägten Fachwerkstadt zu sein. Aber mit der NS-Diktatur änderte sich das erschreckend. Die Juden von Wernigerode wurden denunziert, etliche wurden in KZ-Lager verschleppt und getötet. Andere konnten zwar fliehen und ihr Leben retten, verloren aber ihren Besitz und die Arbeit in den erlernten Berufen. Die Villa Russo ging auf Profiteure des NS-Regimes über.

Zu DDR-Zeiten fand in der dann verstaatlichten Villa Russo eine Berufsschule für Behinderte ihren Platz. Nach der Wende 1989 verzichteten die Nachfahren der Familien Russo und Nelki darauf, die Villa als Privatbesitz restituiert zu bekommen. Vielmehr wollten sie ihre Rechte der Kommune übertragen unter der Bedingung, dass das Anwesen weiterhin der Ausbildung und Integration von Behinderten dient. Aber da meldeten plötzlich Nachkommen der NS-Profiteure Besitzansprüche an. Julia Nelki schildert den jahrelangen, nervenaufreibenden Kampf um die Anerkennung der wahren Besitzverhältnisse und das Aufdecken der NS-Verbrechen in Wernigerode. Heute ist die Villa, auch dank der Unterstützung einiger Teile der Bevölkerung, öffentlich zugänglich und beherbergt unter anderem die „Internationale Begegnungsstätte wider das Vergessen“. Die Berufsschule für Behinderte hat im Stadtgebiet neue Räume bekommen.

Besprechung von Renate Schwarzbauer

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